Zauberkind – wir sind deine Familie
Als wir uns Ende April 2001 dazu entschlossen, Pflegeeltern zu werden, schlossen wir für uns fast nichts aus. So kreuzten wir auf dem entsprechenden Bewerberfragebogen auch nur zwei Dinge an: Nicht vorstellen konnten wir uns aufgrund unserer räumlichen Gegebenheiten – wir wohnen in einem alten Fachwerkhaus mit steilen Treppen – ein Kind mit einer körperlichen Behinderung. Ebenso trauten wir uns ein Kind mit Missbrauch-Hintergrund nicht zu. Weniger wegen des Kindes, sondern wegen der leiblichen Eltern, die so etwas zugelassen hatten.
So kam Anfang Juni, nach nur drei Wochen Wartezeit, unser Purzel als Inobhutnahme zu uns. Er war damals gerade drei Monate alt, ein süßer kleiner Kerl, zwar vernachlässigt und ein wenig unterernährt – mit drei Monaten wog er wesentlich weniger als eines meiner leiblichen Kinder nach der Geburt – aber sonst scheinbar gesund.
Purzel lebte sich schnell ein, war sehr pflegeleicht. Bereits nach kurzer Zeit hatte er sein Soll- Gewicht erreicht. Im August 2001 erfuhren wir, dass seine leibliche Mutter wieder schwanger ist. Kurze Zeit später nahm sich sein leiblicher Vater das Leben. Purzel ging es indes gut. Besuchskontakte gab es nach dem Suizid des Vaters erst einmal keine mehr, und so konnte sich Purzel voll und ganz auf uns einlassen – und wir uns auf ihn.
Wie gesagt war Purzel ein sehr pflegeleichtes Kind. Er weinte wenig, aß gut und schlief – und das bis zum Alter von ca. 2 Jahren – fast den ganzen Tag, was wir darauf zurück führten, dass er in den ersten drei Monaten seines Lebens nicht zum schlafen kam (O-Ton seiner Mutter: „Der schläft fast nie!“) Wir vermuteten, dass sie hin nicht hat schlafen lassen, weil er ein willkommenes Spielzeug war. Also ließen wir ihn – was hätten wir auch sonst tun sollen? Wir waren und sind ja der Überzeugung, dass sich ein Kind soviel Schlaf holt wie es braucht. Purzel war also nur maximal vier Stunden am Tag wach, die übrige Zeit schlummerte er selig. Es war okay. Er schlief sich sozusagen in unsere Herzen.
Inzwischen wieder aufgenommene Besuchskontakte zu seiner leiblichen Mutter nahm er als gegeben hin. Er reagierte nicht, war scheinbar zufrieden mit sich und der Welt. Im April 2002 nahmen wir, ebenfalls als Inobhutnahme, seine Schwester Mariechen bei uns auf. Bis dato war der Verbleib von Purzel bei uns bereits geklärt, aus der Inobhutnahme war eine Dauerpflege geworden. Bei Mariechen war es nicht klar, sie sollte laut Richterin mit ihrer Mutter in eine Mutter-Kind-Einrichtug gehen. Wir versuchten, Mariechen nicht an uns ran zu lassen – schwer und wie sich herausstellte für uns unmöglich (bei einem 2 Wochen alten Baby). Sehr schnell wurde sie „unser“ Kind.
Mariechen brauchte sehr viel Aufmerksamkeit. Die Zeit, die Purzel verschlief, weinte und schrie sie meist. Körpernähe, Enge war sehr wichtig für sie. Viele Nächte verbrachte ich mit ihr in der Hängematte schaukelnd, damit sie überhaupt ein wenig Schlaf bekam. Purzel indes ließ sich von der ganzen Schreierei, von der ganzen Unruhe nicht beeindrucken. Er schlief wie ein Stein.... Sicher kamen uns in der Zeit einige Dinge seltsam vor. Purzel ließ sich nicht mit dem Bausch voran tragen, er verkrampfte sich sofort und wurde ganz starr. Beim Baden schrie er unentwegt. Wir erklärten es uns mit seiner – uns nur wenig bekannten – Vorgeschichte. Und wir nahmen ihn einfach so an, wie er war. Nachdem auch Mariechens Verbleib bei uns geklärt war, kehrte für uns alle ein wenig Ruhe ein. Wie wurden wieder entspannter, was sich auch auf Mariechen positiv auswirkte, auch sie wurde ruhiger.
Es folgten regelmäßige Besuche beim Kinderarzt und im SPZ. Dort vermutete der zuständige Kinderarzt bei Purzel aufgrund einiger Gesichtsmerkmale FAS, was er jedoch vorerst nicht weiter verfolgen wollte, da sich sonst keinerlei Anzeichen fanden. Bei Mariechen wussten wir vom Alkoholkonsum der Mutter – bei Purzel konnten wir es nur vermuten. So gingen die Jahre ins Land. Purzel wuchs und gedieh gut und bekam Frühförderung, um seine Ängste und motorischen Probleme zu beheben. Das machte ihm großen Spaß, wenngleich er einigen Spielen und unterstützenden Gesängen nichts abgewinnen konnte. Bei der verordneten Krankengymnastik jedoch verweigerte er sich komplett. Wir zogen es trotzdem durch, wohl wissend dass es nur hilfreich sein kann. So lernte er mit einem Jahr das krabbeln, lief dann aber erst mit 2 Jahren frei. Ein Spätzünder dachten wir. Aber alles noch im normalen Bereich. Seine Sprachentwicklung dagegen war unauffällig, sieht man mal davon ab, dass er sehr früh sprechen lernte, sich sehr gewählt auszudrücken verstand und selbst Fremdwörter mit einer Selbstverständlichkeit von sich gab, die uns manchmal erstaunte. Bald kamen aber nach und nach noch andere Schwierigkeiten zum Vorschein. Purzel hatte, was wir schon wussten, große Angst vor Wasser. „Das ist heiß!“ schrie er jedesmal, selbst wenn das Badewasser fast kalt war. Sollte er sich die Finger waschen, musste ich erst meine Finger unter den laufenden Wasserstrahl halten, dann seine Händchen nehmen und vorsichtig – Finger für Finger – mit dem Wasser benetzen. Wir konnten nur vermuten, was seine Eltern eventuell mit ihm angestellt hatten. Vorsichtig und mit viel Geduld versuchten wir, ihm das Element Wasser näher zu bringen. Purzel zeigte auch Abneigung gegen vibrierende Gegenstände. Er weigerte sich, sie anzufassen. Gleiches mit Dingen, die Noppen und unebene Oberflächen hatten. Sand und Matsch waren ihm ein Graus. Gemeinsamen Spielen ging er aus dem Weg und spielte lieber alleine und vor allem nach seinen Regeln.
Wenn Purzel einen Mann mit Brille und längeren Haaren sah, nahm er jedesmal Reissaus, versteckte sich in der hinteren Ecke des Raumes und kam erst wieder hervor, wenn dieser gegangen war. Menschen mit Brille machten ihm überhaupt Angst. Freunde und Nachbarn mussten die Brille abnehmen, vorher war eine Kontaktaufnahme nicht möglich. Wobei sich diese sowieso sehr schwierig darstellte. Entweder fand gar keine statt, oder Purzel wurde direkt „frech“ und „ungezogen“. Manchmal sprach er auch völlig fremde Menschen an und verwickelte sie in ein Gespräch, bei dem sich immer alles um seine Themen drehen mussten. Für seine Mitmenschen war er manchmal schwer zu begreifen. Als einmal – er war schon in der Schule – die Freundin einer unserer Töchter hier bei uns abgeholt wurde, stand Purzel an der Türe als die Mutter des Mädchens kam. Er schaute sie an – überlegte kurz – und sagte dann zu ihr:“ Ich habe in meinem Leben erst einmal eine Frau gesehen, die hässlicher ist als du!!“ Das schien unerzogen, unverschämt. Solche Dinge passierten aber öfter, und er schien sich auch nichts böses dabei zu denken. Er war eben so. Ebenso auffällig war, dass alles immer eine gewisse Routine und Gleichmäßigkeit haben musste. Seine Brote durfte nur ich schmieren. Sein Kakao musste immer nach dem selben Schema gemacht werden – erst die Milch in die Tasse, dann die Tasse in die Mikrowelle, dann das Kakaopulver dazu. Bei der geringsten Veränderung – also erst den Kakao in die Milch, dann die Tasse in die Mikrowelle – wurde er wütend, schrie „Das ist falsch, das geht so nicht!“ und war nicht mehr dazu zu bewegen, den Kakao zu trinken.
Seine Spielzeugautos ordnete er in der Zeit auffällig genau. Sie standen alle in einer Reihe, alle mit der Kühlerhaube nach vorn, möglichst nach Farben sortiert. Wagten wir es, eines der Autos umzudrehen, war das Geschrei groß. Bei allem war Purzel aber sehr intelligent, begriff Zusammenhänge rasend schnell, benutzte Ausdrücke, die für sein Alter nicht typisch waren, konnte sich Begriffe und einmal gehörtes gut merken. Und nicht nur das – er war ein kleiner Sonnenschein, der uns immer wieder verzauberte mit seinen Worten, seinem Lächeln und seinen großen dunklen Augen. Wir machten uns keine allzu großen Sorgen. Das jedes Kind anders ist wussten wir, und er war halt etwas anders anders.... zudem stellten wir ihn regelmäßig im SPZ vor und fühlten uns dort gut betreut.
Mit drei Jahren kam Purzel in den Kindergarten. Die Frühförderung empfahl uns ihn in einem integrativen Kindergarten anzumelden, wir entschlossen uns jedoch für einen normalen Kindergarten. Das unser Kind besonders ist wussten wir, aber er war in unseren Augen nicht behindert, und wir fürchteten aufgrund seiner Besonderheiten ein Rutschen in die „Behinderten- Schiene“ (ohne behinderte Menschen abwerten zu wollen!). Wir wollten soviel Normalität wie möglich für ihn. Zudem kannten wir die Erzieherinnen des Kindergartens und wussten, dass alle Kinder dort gut und ihren Neigungen entsprechend gefördert wurden. Im Kindergarten lebte er sich relativ schnell ein. Größere Auffälligkeiten gab es nicht, er spielte lieb und brav alleine auf dem Bauteppich. Freundschaften schloss er lediglich zu einem einzigen Kind. Der Kindergarten arbeitete gut, es gab regelmäßige Elterngespräche, die Erzieher achteten gut auf das einzelne Kind und seine Bedürfnisse. So versuchte man auch, Purzel aus seiner selbst gewählten Isolation auf dem Bauteppich heraus zu holen – mit wenig Erfolg. Durfte er nicht auf dem Bauteppich spielen, dann malte er eben allein an einem Tisch. Und er malte immer das gleiche: Burgen, Schlösser, Gebäude. Alles einfarbig, am liebsten mit Kugelschreiber. Im Laufe der Jahre habe ich einige Ordner voll mit solchen Bildern von ihm gesammelt. Gruppenaktivitäten waren Purzel zuwider. Er war sich selber genug. Wenn andere Kinder im Sommer nach draußen gingen, dann wollte er alleine im Gruppenraum zurück bleiben, was von den Erziehern aber nicht geduldet wurde, sodass er mit nach draußen musste. Er fügte sich aber auch hier widerstandslos.
Die nächste Baustelle war sein Essverhalten. Purzel aß oder trank nie woanders. So frühstückte er zu Hause, aß im Kindergarten nichts, und bekam erst Mittags zu Hause wieder eine Mahlzeit. Da er den Kindergarten nur drei Stunden besuchte, sahen wir auch hier kein Problem, zumal seine Schwester das gleiche Verhalten an den Tag legte. Schwierig war es an den Tagen, wo er nachmittags Ag hatte und über Mittag im Kindergarten blieb. Er weigerte sich das Mittagessen dort einzunehmen, was zur Folge hatte, dass ich hin mittags abholte, er zu Hause aß und ich ihn dann wieder in die Einrichtung brachte. Schwierig war es auch im Sommer wenn es draußen heiß war – er trank nichts und die Erzieher mussten ihn förmlich dazu nötigen, genügend Flüssigkeit zu sich zu nehmen. War Purzel mal zu einem Kindergeburtstag eingeladen, war er nicht dazu zu bewegen, Kuchen zu essen oder etwas zu trinken. Allerdings kamen solche Einladungen selten vor, da er bis auf den einen Kindergartenfreund keine weiteren Freunde hatte. Purzel aß nichts, wenn sich Stücke darin befanden. Gemüsesuppe musste durch ein Sieb gestrichen werden. Schokostreusel auf Kuchen führten dazu, dass er lieber keinen Kuchen aß, bei Fruchtstücke im Pudding wurde der Pudding verschmäht. Mohn- oder Sesambrötchen konnte er gar nicht essen. Und er aß auch sehr wenig. Zum Mittag ein halbes Fischstäbchen, fünf Pommes Frittes – das war ihm genug. Wir ersetzten die fehlende Menge an Essen mit vielen Milchprodukten, Joghurt, Quark, Pudding, oder auch Obst in Form von Äpfeln oder Bananen, die wir ihm zwischendurch anboten und die er gerne aß. Purzel stieg auch nie in fremde Autos ein, selbst dann nicht, wenn einer von uns dabei war. Als ich einmal eine befreundete Mutter bat, Purzel aus dem Kindergarten mitzubringen, weil ich selber kein Auto hatte, war es ihn nur mit Gewalt möglich, ihn in ihr Auto zu setzen. Bei einem Besuch in einem Autohaus saßen mein Mann und ich in einem Auto, um es uns anzuschauen – Purzel war nicht zu bewegen, sich auch dort hinein zu setzen. Schlechte Erfahrungen? Immerhin war es ein fremdes Auto, dass ihn von seinen leiblichen Eltern weg zu uns gebracht hatte... So versuchten wir immer wieder Erklärungen für sein Verhalten zu finden.
Purzel hatte auch noch eine andere „Auffälligkeit“: er schraubte für sein Leben gern. Nichts war vor ihm sicher, selbst die Türbleche an den Türen schraubte er ab. Kein Spielzeug blieb heil. Einmal sah er einen Schraubenzieher auf dem Tisch liegen - „Mama, nimm den weg, sonst MUSS ich schrauben“ - es war fast zwanghaft. Er musste alles untersuchen „ich muss doch wissen wie das funktioniert!“ Uhren, Zahnräder hatten es ihm besonders angetan. So besorgten wir von Freunden und Bekannten allerlei alte Geräte, die er auseinander schrauben konnte. Als meine Nähmaschine, über die ich schon lange geschimpft hatte, vollends kaputt ging und ich sie ihm gab, damit er sie auseinander nehmen konnte, standen ihm die Tränen in den Augen vor Freude. Eine große „Pendeluhr“, die ihm von einer lieben Userin des Pflegeelternforums zu einem Treffen mitgebracht wurde, wurde akribisch auseinander genommen und untersucht, sodass er schnell eine Vorstellung davon bekam, wie so eine Uhr funktioniert.
Mit 6 Jahren kam Purzel in die Regelgrundschule. Die Vorschuluntersuchung war relativ unauffällig gewesen, einer normalen Einschulung stand nichts im Weg. Auch die Frühförderung wurde nun beendet.
In der Schule wurden nun Purzels Probleme im sozial-emotionalen Bereich richtig gravierend. Er verweigerte die Teilnahme am Unterricht komplett, saß meist auf seinem Platz, beteiligte sich an nichts, holte seine Hefte und Bücher nicht aus der Tasche, arbeitete nicht mit. Die Lehrerin gab ihm ein Kind an die Seite, welches das für ihn erledigen sollte. Denn da Purzel in eine Schuleingangsphase, also erste und zweite Klasse werden gemeinsam unterrichtet, eingeschult wurde, hatte er wie alle anderen Erstklässler auch einen „Paten“. Dieser war nun also dafür verantwortlich, dass Purzel wenigstens seine Bücher auf den Tisch legte. Eine dauerhafte Lösung war das aber nicht.
Freunde hatte er kaum. Ein Junge, der in unserer Nähe wohnte, kam ab und zu zum spielen. Allerdings spielte er meist mit Mariechen, die sich mittlerweile zu einem fröhlichen und offenen Menschen entwickelt hatte. Purzel saß derweil lieber am Tisch und zeichnete oder baute mit Fischertechnik, auch eine seiner großen Vorlieben – da gibt es viele Zahnräder. Er baute schwierige Konstruktionen ohne Anleitung, Maschinen die auch funktionierten. Trotz deines offensichtlichen Desinteresses in der Schule bekam Purzel alles mit, lernte auf seine eigene Art. Er konnte jede ihm auf den Unterricht bezogene Frage beantworten. Er war also anwesend, obwohl er es scheinbar nicht war.
Als Purzel mit der Schule anfing, waren zwei Lehrerinnen in der Klasse. Die eine – eine Referendarin – verließ die Klasse bereits nach kurzer Zeit, die andere war schwanger und ging in Mutterschutz. Es folgte ein Lehrerwechsel, der erst von insgesamt drei. Purzel war davon scheinbar unbeeindruckt. Egal welche Lehrerin die Klasse unterrichtete, egal wie sie unterrichtete, es änderte nichts an seinem Verhalten. Purzel saß auf seinem Platz, arbeitete weiterhin nicht mit, weigerte sich zu schreiben oder zu rechnen. Trotz allem wusste er bei Nachfragen alles. Die vierte Lehrerin endlich sah sein Verhalten als das, was es war – nämlich als Problem für ihn. Sie war es auch, die gezielt auf Suche ging und uns empfahl, ihn in eine heilpädagogisch-therapeutische Einrichtung zu schicken. Diese Lehrerin war ein Glücksfall für Purzel, und ein Glücksfall für uns war, dass wir Unterstützung von unserer zuständigen Sozialarbeiterin beim Jugendamt hatten, die sich sehr für Purzel einsetzte. So durfte er bereits nach kurzer Zeit in der hiesigen heiltherapeutischen Tagesgruppe hospitieren. Nach zwei Wochen Hospitation waren sich die Fachkräfte dort nicht sicher, ob sie es schaffen würden sein Verhalten zu ändern, waren aber bereit den Versuch zu wagen.
Zu der Zeit hatte ich Kontakt zu einer Mutter, die einen Sohn mit Asperger-Syndrom hat. Ihr erzählte ich von Purzel, seinen Auffälligkeiten, seiner Vorliebe fürs Schrauben – seinen Zeichnungen. Sie schaute ihren ihren Mann an, und beide wie aus einem Mund fragten, ob wir schon mal Asperger abgeklärt hätten? Nein, hatten wir nicht..... Ich machte mich auf die Suche im Internet, und was ich fand war.... unser Purzel. Es war wie eine Offenbarung.... Wahrscheinlich in einer minder schweren Form, aber doch war es so offensichtlich. Aber ich bin kein Fachmann, und sicher nicht objektiv, also suchte ich Hilfe im SPZ, das uns ja sowieso während der ganzen Zeit schon begleitete. Dort hatte mittlerweile der zuständige Kinderarzt gewechselt, und der jetzige vermutete die Besonderheiten von Purzel ganz woanders. Asperger schloss er rigoros aus. So wurden im Laufe von zwei Jahren viele Tests gemacht. Zeit verstrich. Purzel war immer noch in der Tagesgruppe, wo er Vormittags beschult wurde. Die Gruppe tat ihm gut, wir konnten kleine positive Veränderungen feststellen. Und er ging gerne dorthin, weil er dort so angenommen wurde wie er war, er aber auch gefordert und gefördert wurde. Uns tat der intensive Kontakt mit den Sozialpädagogen dort gut. Mit ihnen konnten wir Probleme besprechen und gemeinsam nach Lösungen suchen. Wir standen nicht alleine da in unserem Bemühen, Purzel in eine gewisse Normalität zu helfen.
Purzel ist heute immer noch in der Tagesgruppe, seit etwa 2,5 Jahren. Normal ist eine Beschulung und Betreuung dort nach 2 Jahren abgeschlossen. Das Konzept sieht vor, dass die Kinder dort nach spätestens zwei Jahren in eine Regelschule zurück gehen können. Nicht so Purzel. Sein Verhalten hat sich zwar schon sehr gebessert, ist aber noch weit weg vom „normalen“. Der im SPZ zuständige Kinderarzt sagte uns im letzten Gespräch, dass SEINER MEINUNG NACH Purzels Probleme nur im Autismus-Bereich zu finden seien – also Asperger-Syndrom. Nach zwei Jahren reden, nach zwei Jahren, in denen nicht nur wir, sondern auch das Jugendamt, auch die Sozialpädagogin, auch unser Kinderarzt ihn darauf aufmerksam gemacht haben, nach zwei Jahren, in denen er das vehement immer wieder abgestritten hat nun SEINE Erkenntnis. Als ich nach dem Gespräch aus dem Raum ging, hätte ich schreien können..... wie viel Zeit ist verloren gegangen! Man wird also in den nächsten Wochen eine Diagnostik mit Purzel machen, um abzuklären, ob unsere Vermutung richtig ist. Wie es mit Purzel schulisch weiter geht steht in den Sternen. Die Tagesgruppe tut ihm gut und fördert ihn in allen Belangen, aber wir wissen, dass er dort nicht ewig bleiben kann. Was dann folgt wissen wir noch nicht. Sein IQ von 115 ist weit von einer Lernbehinderung entfernt, eine LB-Schule wäre der falsche Weg. Seine emotionalen Störungen würden eine E-Schule befürworten, aber wir sind uns darüber im klaren, dass er dort nicht richtig aufgehoben wäre. Purzel ist kein auffälliges Kind in Form von falscher Erziehung, von stören oder gar andere Kinder schlagen. Wir kennen keine Wutausbrüche von ihm, kein mutwilliges Zerstören. Nein, er ist unglaublich ruhig, sanft, lieb.
Eine Regelschule würde seinem IQ entgegen kommen – aber kann er das emotional schaffen? Trotz allem oder gerade deswegen – Purzel ist und bleibt unser Kind. Natürlich hatten wir uns bei seiner Aufnahme auf ein gesundes Kind eingestellt, so wie es uns auch gesagt wurde. Wie besonders, wie anders er ist hat sich erst im Laufe der Jahre heraus gestellt. Das ändert aber nicht daran, dass wir ihn bedingungslos lieben, ihn annehmen wie er ist. Er hat eine Gabe, Menschen für sich einzunehmen, er verzaubert sie im wahrsten Sinne des Wortes. Ein Blick in seine unglaublichen Augen genügt, und man muss ihn einfach gern haben. Purzel ist jetzt bald 10 Jahre alt, und nach wie vor verhält er sich anders als andere Kinder. Er hat viel Phantasie, denkt und zeichnet sich seine Welt. Seine Interessen sind die großen Bauwerke unserer Erde – der Eifelturm, der Kölner Dom, das Taj Mahal,der Buri Dubai. Er mag Vampire und Fledermäuse und träumt davon, einmal König in „Vampironia“ zu werden. Baut stundenlang mit Lego und Fischertechnik. Ist ein „genialer Mathematiker“ (so seine Lehrerin). Begreift und durchschaut technisches sehr schnell. Kommuniziert oft nur über sein Stofftier „Tatzi“, das er heiß und innig liebt. Freunde hat er keine, selten kommt einmal jemand zu uns, meist nur einmal, denn Purzel spielt nicht mit demjenigen, das überlässt er seiner kleinen Schwester. Fremde scheinen ihn zu stören. Er mag es selten, angefasst zu werden. Sucht selten von sich aus Körperkontakt. Kann Gefühle nicht benennen, und tritt die Gefühle anderer oft mit Füßen. Immer noch braucht er viel Schlaf und schläft so fest, dass man ihn wahrscheinlich klauen könnte, er würde es nicht bemerken. Aber wir sehen Veränderungen. Neuerdings liest er Comics – vor einigen Monaten noch undenkbar, da interessierten ihn lediglich Sachbücher. Er kann jetzt auch Dinge essen, in denen Gemüse oder Kräuter sind, er mag sogar Mohnbrötchen (die er „Krümelbrötchen“ nennt), und isst mittlerweile auch genug. Es muss nicht mehr alles seinen festen Platz haben. Er hilft beim Tisch decken, zieht sich alleine an, sucht auch selber Anziehsachen aus dem Schrank. Er wäscht sich freiwillig die Hände und er traut sich sogar zu duschen. Und neulich setzte er sich neben mich und sagte zu mir: „Mama, ich hab dich so sehr lieb!“ Wie undenkbar ist so etwas noch vor wenigen Monaten gewesen! In dem Moment hätte ich heulen können..... Es sind noch viele solcher Kleinigkeiten die sich geändert haben, und wir sehen dass wir auf der richtigen Spur, auf dem richtigen Weg sind.
Wir haben das große Glück, Menschen und Fachkräfte an unserer Seite zu haben, die uns unterstützen. Wir haben Freunde und Nachbarn, die Purzel mögen und versuchen ihn zu verstehen. Und wir werden ihn unterstützen wo es geht, werden ihm helfen, sein Leben zu meistern. Zu der leiblichen Mutter gibt es seit 5 Jahren keinen Kontakt mehr. Purzel fragt auch nicht danach, es scheint ihn nicht zu interessieren. Er lebt im hier und jetzt. Wir sind uns darüber im Klaren, dass wir noch einen weiten Weg vor uns haben. Aber wir lieben dieses Kind – bedingungslos. Und wir werden es schaffen. Wir sind der festen Meinung, dass kein Kind dieser Welt einfach nur zu „funktionieren“ hat, dass jedes Kind ein Recht darauf hat so angenommen und geliebt zu werden wie es ist. Wir, die wir uns freiwillig und bewusst auf das „Abenteuer Kind“ eingelassen haben haben die schöne Aufgabe (und die Pflicht), diesen Kindern auf ihrem Weg ins Leben zu helfen.
Purzel ist unser „besonderes“ Kind. Nicht nur, weil er etwas Besonderes ist. Sondern nicht zuletzt auch deshalb, weil er uns jeden Tag darauf stupst, wie besonders die Welt ist. Und weil jedes Kind doch irgendwie besonders ist. Er verzaubert uns jeden Tag mit seiner unglaublichen Art die Welt zu sehen. Und wenn ich in seine Augen schaue, die so selten einem Blickkontakt stand halten, dann weiß ich, dass es genau dieses Kind ist, das unsere Familie komplett macht. Dass er genau hier her gehört. Und ich erahne, wie sehr viel leerer unser Leben ohne ihn wäre.
© pflegeeltern.de von einer Userin.