Der Schweizer Psychologe Eugen Bleuler prägte 1911 erstmals den Begriff "Autismus". Er definierte Autismus als die Zurückgezogenheit von an Schizophrenie erkrankten Menschen in ihre eigene Gedankenwelt und damit als ein Grundsymptom von Schizophrenie. Leo Kanner (1943) und Hans Asperger (1944) nahmen den Begriff auf, definierten ihn jedoch als ein Störungsbild eigener Art. Sie beschrieben Autismus nicht als einen sich entwickelnden Zustand, in dem sich an Schizophrenie erkrankte Menschen aktiv in sich zurück ziehen sondern als ein Zustand der inneren Zurückgezogenheit, in dem sich Menschen von Geburt an und damit ohne eigenes Zutun befinden. Das von Kanner/ Asperger beschriebene Störungsbild hat sich bei der Verwendung des Begriffes Autismus durchgesetzt.
Es werden drei Typen von Autismus unterschieden:
- atypischer Autismus
- frühkindlicher Autismus (auch infantiler Autismus oder Kanner-Autismus genannt) einschließlich der Variante des hochfunktionalen Autismus (engl. high-functioning-autism) und
Diese drei Typen bilden zusammen das Autismusspektrum (engl. Autism Spectrum Disorders). Auf der einen Seite dieses Spektrums steht der atypische Autismus, der meist mit schwerer geistiger Behinderung auftritt. Auf der anderen Seite dieses Spektrums ist das Asperger-Syndrom angesiedelt, das in der Regel mit normaler bis überdurchschnittlicher Intelligenz auftritt. Sowohl die Übergänge innerhalb des Spektrums als auch der Übergang vom Asperger-Syndrom zur Normalität sind fließend.
Allen Zuständen innerhalb dieses Spektrums sind die Merkmale eingeschränkte soziale Interaktion, eingeschränkte Kommunikation und reptitives Verhaltensmuster gemeinsam.
Sprache
Ungefähr die Hälfte aller autistischen Kinder lernt nie, sich lautsprachlich zu äußern; sie ziehen eher an der Hand des Erwachsenen bei Willensäußerungen oder entwickeln eine in vielerlei Hinsicht auffällige Sprache (z.B. in der Melodie, Wortwahl, in der Grammatik, im Sprechtempo). Sie verwenden lange Zeit keine Personalpronomina ("ich"); sie reden von sich in der 3. Person oder verwechseln Du und Ich.
Beim Sprechen wird (wenn überhaupt) nur kurz Blickkontakt aufgenommen. Sprachbegleitende Mimik und Gestik unterbleiben. Selbstgesprächen, oft floskelhafte, bizarre Sprache mit Neuschöpfungen, ständige Wortwiederholungen oder die Wiederholung von Fragen, die an sie gestellt wurden, sind typisch. Die Kinder kommunizieren in mechanischer Weise, und dies erweckt den Anschein, dass sie die üblichen Kommunikationsregeln nicht beherrschen.
Wahrnehmung, Verarbeitung von Sinnesreizen
Die Kinder bevorzugen bestimmte Geräusche (hohe Töne, Klopftöne, Musik, Geräusche vom Staubsauger oder anderen Haushaltsmaschinen), sie achten jedoch nicht auf Sprache oder sehr laute Töne oder aber reagieren äußerst empfindlich auf normale Alltagsgeräusche . Sie lassen sich von optischen Reizen faszinieren (Teppichmuster, Seifenblasen, Klarsichtfolie), die sie auch selbst erzeugen (gleichförmiges Bewegen von Bändchen oder Fädchen vor den Augen). Sie werfen nur kurze Blicke auf Personen und Dinge, sehen an ihnen vorbei. Es fällt ihnen schwer, die Gesichter von Menschen, die ihnen vertraut sein müssten, wiederzuerkennen. Manche neigen dazu, ihr Umfeld mit Belecken oder Schnüffeln zu erkunden, und erscheinen geradezu unempfindlich gegenüber Kälte, Hitze oder Schmerzen.
Bewegungsmuster
Die Kinder zeigen häufig ständig wiederholende, rhythmische Hand-, Kopf- oder Körperbewegungen - insbesondere dann, wenn sie erregt sind. Sie grimassieren, schaukeln oder hüpfen gerne. Mitunter zeigen sie Mängel in der Koordination der Bewegungen. Es fällt ihnen schwer, auch einfache Bewegungen nachzuahmen. Manchmal gehen sie auf Zehenspitzen. Es dauert oft lange, bis sie eine Handlung auf Aufforderung tatsächlich ausführen. Manchmal verharren sie in der Bewegung.
Verhaltensmuster
Die Kinder zeigen sich nicht in der Lage, Regel- oder Rollenspiele durchzuführen. Sie benutzen Spielzeug (Puppe, Auto) eher zur Sinnesstimulation. Beliebte Tätigkeiten (z.B. Wasser oder Sand durch die Hände rieseln lassen) können sie über Stunden faszinieren. Der Alltag ist geprägt von ständig gleich ablaufenden Ritualen, die sie oft zwanghaft einzuhalten trachten (z.B. Schuhe, CDs ordnen, Fenster schließen, Bevorzugung bestimmter Nahrungsmittel). Versucht man, diese Zwänge zu durchbrechen, reagieren sie oft aggressiv oder mit Selbstverletzungen. Sie entwickeln wenig Motivation, sich mit Neuem zu befassen, wenden ihre Aufmerksamkeit oft Kleinigkeiten zu (z.B. Ball, Ohrring, Rad) und entwickeln wenig Phantasie.
Soziale Kontakte
Was die Personen aber im Umgang mit anderen Menschen besonders beeinträchtigt, das ist die Schwierigkeit, den Sinngehalt aus der Sprache zu entnehmen, Absichten in den Handlungen der Mitmenschen zu erkennen und emotionale Äußerungen (Freude, Ärger, Trauer...) in der Mimik, Gestik und Sprachmelodie richtig zu verstehen. Gleichfalls fällt es ihnen schwer, eigene Empfindungen durch den Gebrauch von Mimik und Gestik verständlich mitzuteilen.
Je nach Intensität der Ausprägung werden Patienten innerhalb des autistischen Spektrums eingeordnet.
Frühkindlicher Autismus ist gekennzeichnet durch eine schwere Ausprägung der Symptome, keine oder nur geringe sprachliche Entwicklung und besonders starke Objektbezogenheit.
Atypischer Autismus unterscheidet sich vom frühkindlichen Autismus dadurch, dass Kinder entweder nach dem dritten Lebensjahr erkranken oder nicht alle Symptome aufweisen (atypisches Erkrankungsalter oder atypische Symptomatik).
Das Asperger-Syndrom ist die leichteste Ausprängung im Autismusspektrum. Die Erscheinungsformen sind vielgestaltig und die Übergänge zur Normalität fließend. Zusätzlich zu den üblichen Symptomen einer autistischen Störung liegen beim Asperger-Syndrom üblicherweise auch motorische Auffälligkeiten vor. Früher wurde das Asperger-Syndrom auch als "autistische Psychopathie" bezeichnet.
Während früher die Vorstellung vorherrschte, Autismus sei die Folge eines lieblosen Umgangs/ emotionaler Kälte der Mutter mit dem Kind ist heute unbestritten, dass es sich bei Autismus um eine neurologische Störung mit organischen Ursachen handelt.
Die genauen Ursachen sind noch ungeklärt, es gibt jedoch mehrere Thesen, welche Faktoren zu Autismus führen können, die jedoch teilweise wissenschaftlich noch nicht ausreichend nachgewiesen sind und bei denen weiterer Forschungsbedarf besteht. Unter den Wissenschaftlern herrscht überwiegende Einigkeit, dass alle Thesen eine Berechtigung haben, jedoch nur Teilaspekte berücksichtigen, so dass davon ausgegangen wird, dass Autismus auf eine Wechselwirkung verschiedener Aspekte zurück zu führen ist. Als Ursache denkbar sind
- genetische Faktoren (Familien- und Zwillingsstudien)
- Hirnschädigungen: Funktionsstörung der linken Gehirnhälfte, abnorme Veränderungen des Stammhirns in Verbindung mit Aufmerksamkeitsdefizit, Störungen in der sensorischen Reizverarbeitung
- mangelhafte Koordination/ fehlende Verbindungen zwischen den einzelnen Gehirnregionen
- biochemische Besonderheiten: erhöhter Dopamin-, Andrenalin-, Npradrenalon- und Serotoninspiegel/ hoher Testosteronspiegel im Mutterleib
- Defizite im affektiven Kontakt/ kognitive Defizite (Gefühlsblindheit)
- Monotropismus: gute Fähigkeit, sich auf einen Reiz/ ein Interesse zu konzentrieren, aber kaum vorhandene Fähigkeit, mehrere Aufgaben gleichzeitig oder in schneller Folge (wie in sozialen Situationen erforderlich) auszuführen
Zudem besteht die Theorie, dass es sich bei Autismus nicht um eine Behinderung oder Krankheit sondern lediglich um einen Teil der biologischen Vielfalt der Menschheit handelt, für den aber in einer Gesellschaft, die mehr und mehr auf soziale Fähigkeiten abzielt, immer weniger Raum bleibt.
Vom Autismus abzugrenzen sind autistische Verhaltensweisen. Autismus tritt von Geburt an auf und ist nicht heilbar. Autistische Verhaltensweisen können durch Vernachlässigung, Mißhandlung, Hospitalismus o.ä. ausgelöst werden und bessern sich in der Regel, wenn sich die Umstände verbessern.
Zur Abgrenzung von Autismus zu anderen Störungen oder Erkrankungen bzw. Syndromen ist eine umfangreiche Differentialdiagnostik notwendig.
Nach den internationalen Klassifikationssystemen (ICD 10 und DSMIV) liegen dem Vollbild folgende Kernsymptome zu Grunde:
- eine qualitative Beeinträchtigung der zwischenmenschlichen Beziehungen
- eine schwere Beeinträchtigung der Kommunikation und der Phantasie
- deutlich eingeschränkte Interessen und Entwickeln von stereotypen Verhaltensmustern
- Beginn im Verlauf der ersten 36 Lebensmonate
Der Verlauf einer autistischen Störung hängt von der individuellen Ausprägung beim einzelnen Betroffenen ab. Die Ursache der Störung kann nicht behoben werden, unterstützende Behandlungen in einzelnen Symptombereichen sind aber möglich. Hierfür ist die Erstellung eines ganzheitlichen Behandlungsplans erforderlich, in dem das individuelle Entwicklungsprofil zugrunde gelegt wird, die Art der Behandlung der einzelnen Symptome benannt und Behandlungsmaßnahme aufeinander abgestimmt werden und in den das gesamte Umfeld ((Pflege-)Eltern, weitere Familie, Erzieher, Lehrer) einbezogen wird. Mögliche therapeutische Interventionsmöglichkeiten sind
- Verhaltenstherapie
- Soziales Kompetenztraining
- Frühförderung, Ergotherapie, Physiotherapie, Logopädie
- begleitende medikamentöse Behandlung
- Musik- oder Kunsttherapie
- Reit-/ Delphintherapie
- gestützte Kommunikation
Die langfristigen Entwicklungsmöglichkeiten eines Autisten hängen eng mit dem Typus seiner autistischen Störung zusammen. Bei frühkindlichen und atypischen Autismus ist in der Regel nur eine geringe Besserung des Symtombildes zu erreichen. Der überwiegende Teil der Betroffenen ist im Erwachsenenalter zu einer eigenständigen Lebensführung nicht in der Lage sondern benötigt eine intensive und lebenslange Betreuung in einer geschützten Einrichtung. Bei hochfunktionalem Autismus und dem Asperger Syndrom sind jedoch in der Regel gute Behandlungserfolge zu verzeichnen, die eine eigenständige Lebensführung, das Erlernen eines Berufes usw. ermöglichen.